Anno 1888 - Uhrmacher verkaufen erstmalig Fahrräder in Unna
Die ersten Händler, die in Unna Fahrräder angeboten haben, waren Uhrmacher in Unna und Königsborn.
Die deutsche Hochrad-Produktion begann in Dortmund
Die erste Fabrik, die in Deutschland ab dem Jahr 1879 Hochräder produzierte, war die in Dortmund an der Schützenstraße 12 gelegene Firma Dissel & Proll. Wie damals üblich, besaß auch Dissel & Proll eine eigene Fahrschule, da das Fahren eines Hochrades viel Anweisung und Übung erforderte. Neben Bicycles wurden in Dortmund auch Tricycles (Dreiräder) produziert. Diese hatten zwar einen höheren Rollwiderstand und die Fahrt war auf holprigen Straßen unbequem, aber die Fahrt war ungefährlich und auch für weniger sportliche Menschen möglich.
John Kemp Starley, Neffe von James Starley, erfand 1885 das revolutionäre „Rover Safety Bicycle“, ein Sicherheitsrad mit niedrigem Schwerpunkt, zwei gleichgroßen Rädern und freier Lenkung, da nun das Hinterrad über eine Kette angetrieben wurde. Das „Rover“ war bequemer, sicherer und schneller als andere Zweiräder. Die Erfindungen des Kugellagers (1884) durch Friedrich Fischer, der nahtlos gewalzten Stahlröhren im Schrägwalzverfahren (1886) durch die Gebrüder Mannesmann und des Luftreifens (1888) durch John Boyd Dunlop machten das zunächst belächelte Niederrad zu einem ausgereiften und massentauglichen Produkt.
Das Fahrrad erreicht Unna
Auf eine Anfrage des Oberpräsidenten von Westfalen in Münster antwortete Unnas Bürgermeister Adolf Eichholz am 19.8.1887: „Hier wird das Radfahren nicht betrieben. Der Erlasz einer bezüglichen Polizei-Verordnung ist daher vorläufig kein Bedürfniß für Unna“.
Ein Jahr zuvor am 9.8.1886 hatte er sich schon einmal ausführlicher zu diesem Thema geäußert. „Der Verkehr mit Velozipeden in dem hiesigen Stadtbezirk ist ein sehr geringer und beschränkt sich zur Zeit auf die die Stadt hin und wieder passierenden Velozipedfahrer aus den benachbarten Städten wie namentlich Dortmund pp. Erlasz einer den fragl. Verkehr regelnden Polizeiverordnung ist daher für den hiesigen Bezirk nicht als dringendes Bedürfniß zu erachten, zumal die Velozipedfahrer beim Passieren der hiesigen Stadt erfahrungsmäßig sehr selten durchfahren sondern fast regelmäßig vor der Stadt absteigen und das Veloziped neben sich durch die Stadt führen.“
Die Aussagen des Bürgermeisters Eichholz hatten nur noch eine kurze Zeit Gültigkeit. Erstmalig im August 1888 bot der Uhrmacher Otto von Roetel, der in der Bahnhofstraße 15 sein Geschäft hatte, im Hellweger Anzeiger und Boten Fahrräder (Bild 1) zum Verkauf an und benannte die Produzenten seines umfangreichen Angebots: „Coventry Maschinistes Co., Singer & Co., Starley Brothers, Oxford Cycles, Quadrant Tricycles Comp., New Rapid“. Namentlich nicht genannt die „ersten Firmen Deutschlands“, mit dieser Umschreibung war wohl auch Dissel & Proll aus Dortmund gemeint. Die damaligen Inhaber, Schmidt und Anger, suchten im gleichen Jahr mit Anzeigen nach Vertretern für ihr neues Sicherheitsrad.
Von Roetel verwendete in seiner Werbeannonce fürs Zweirad gleich zwei Bezeichnungen, „Fahrrad“ und „Velociped“ und setzt dabei den älteren Begriff in Klammern. Der Wechsel in der Bezeichnung für Zweiräder kam in etwa zeitgleich mit dem Wechsel vom Hochrad zum Niederrad. Die neue Bauart der Zweiräder war aber nicht ausschlaggebend für den neuen Begriff. Bereits 1885 haben die deutschen Radfahrer-Vereine, die sich ein Jahr zuvor in Leipzig zum Deutschen Radfahrer-Bund (DRB) zusammengeschlossen hatten, auf die Verwendung des Namens „Fahrrad“ geeinigt. Im gleichen Jahr war es zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (ADS) gekommen, dessen Zielsetzung die Reinigung der deutschen Sprache von Fremdwörtern war. Otto Sarrazin, Großonkel des heute bekannten Thilo Sarrazin und ab 1900 erster Vorsitzender, schrieb ein Verdeutschungs-Wörterbuch, das 1886 erschien. In diesem wird statt des französischen „Velociped“ und des englischen „Bicycle“ der heute gebräuchliche Begriff „Fahrrad“ verwendet. Statt „Bicyclereiten“ sprach man nun vom „Fahrrad fahren“.
Knapp zwei Jahre später erhält von Roetel Konkurrenz durch Emil Schulze-Brockhausen, der seit 1887 Schmuck, dann Nähmaschinen und ab Mai 1890 in Königsborn an der Kastanien-Allee der heutigen Friedrich-Ebert-Straße Fahrräder verkaufte. Zum Ausprobieren dieser neuen Mobilität bot er seinen Kunden Leihräder an (Bild 2). Das erste Foto eines Fahrrades in Unna ist nach heutigem Stand auf einer Postkarte (kolorierte Lithographie) aus dem Jahr 1899 abgebildet (Bild 3). Der Standort des Fotografen war in Höhe des Geschäftes von Emil Schulze-Brockhausen. Eine andere undatierte Postkarte zeigt vom gleichen Standort in Gegenrichtung aufgenommen (Bild 4) weitere Radfahrer.
Auch von Roetel verkaufte seit 1889 neben Fahrrädern Nähmaschinen. Ursache für diese heute seltsam wirkende Produktkombination war, dass viele Nähmaschinenproduzenten, wie Dürkopp in Bielefeld, Opel in Rüsselsheim, Stutznäcker in Dortmund oder Seidel & Naumann in Dresden, ihre ursprünglich bestehende Nähmaschinenproduktion beim Aufkommen des Fahrradhypes um die Produktion von Fahrrädern erweiterten. Der Grund: Beide Produkte benötigten gleiche Fachkräfte und einen ähnlichen Maschinenpark. Als Saisonprodukte, Radfahren im Sommer und Nähen in der dunklen Jahreszeit, ergänzten sie sich ideal und lasteten die Fabrikationsanlagen besser aus.