
Anno 1916 - Mit dem Fahrrad an die Front – und nicht ins Grüne
Gummimangel im Ersten Weltkrieg führt zu Fahrverboten in Unna
Als Deutschland am 1. August 1914 in den Ersten Weltkrieg eintrat, änderte sich das Leben der Bevölkerung schlagartig – nicht nur an der Front, sondern auch in der Heimat. Zwei Jahre später erreichte die Auswirkungen des Krieges auch den Alltag der Unnaer Bürgerinnen und Bürger auf unerwartete Weise: Die beliebten Fahrradausflüge am Sonntag wurden untersagt.
Wie der Hellweger Anzeiger am 10. Juli 1916 (S. 3) berichtet, wurde das Radfahren zu reinen Vergnügungszwecken offiziell verboten. Zur Begründung hieß es:
„Behufs Schonung unserer Vorräte an Gummi ist bekanntlich ein Verbot der Benutzung von Fahrrädern zu Vergnügungszwecken erlassen worden. Trotzdem kann man allsonntäglich ganze Scharen von Radfahrern, besonders weibliche Personen, beobachten …”, (Hellweger Anzeiger, 10. Juli 1916)
Der Hintergrund: Gummi war durch die britische Seeblockade zu einem wertvollen Rohstoff geworden. Deutschland, das vor dem Krieg auf Naturkautschukimporte aus britischen und belgischen Kolonien angewiesen war, sah sich mit einem akuten Mangel konfrontiert.
Trotz des Verbots ließen sich viele Menschen, besonders Frauen, die sonntägliche Radtour nicht nehmen – ein Hinweis auf wachsende Spannungen zwischen Alltag und Kriegsdisziplin.
Ab dem 14. August 1916 durfte das Fahrrad in Unna nur noch mit behördlicher Genehmigung genutzt werden. Mit dem sogenannten „Erlaubnisschein“ sollte sowohl die Mobilität eingeschränkt als auch der Verbrauch von Gummi gezielt kontrolliert werden.
Der Kampf um Rohstoffe wurde zur Regel – auch fernab der Front. In zahlreichen Städten wie Münster, Gütersloh, Halle und Braunschweig wurden organisierte Sammlungen von alten Fahrradmänteln, Schläuchen und sonstigem Gummimaterial durchgeführt. In Münster beispielsweise kamen im Jahr 1916 allein 530,5 Kilogramm an gebrauchten Gummiartikeln zusammen – ein bedeutender Beitrag zur „Materialschlacht“ an der Heimatfront.
Während in der Zivilbevölkerung Räder beschlagnahmt oder eingeschränkt wurden, gewannen sie im Militär an Bedeutung. Im Vergleich zu Pferden oder den noch unausgereiften Motorfahrzeugen waren Fahrräder nicht nur günstiger und wartungsärmer, sondern auch geräuschärmer. Das deutsche Heer verfügte über mehr als 36 Radfahrerkompanien sowie spezielle Kavallerie-Radfahrerabteilungen. Fahrräder wurden für Melde- und Kuriertätigkeiten, Aufklärungseinsätze und Truppenbewegungen eingesetzt und dementsprechend angepasst: robuste Rahmen, höhergelegte Tretlager, gelegentlich einklappbare Bauteile für den Transport. Hersteller von Militätärrädern waren die Firmen Patria (Solingen), die Wanderer-Werke und Diamant-Werke aus Chemnitz, sowie die Elsterwerdaer Fahrradfabrik C. W. Reichenbach (Marke Aegir). Die NSU Motorenwerke (Neckarsulm) und Triumph (Nürnberg) stellten die zivile Produktion weitgehend ein und produzierten teils kriegswichtige Güter.